Wenn Loslassen sich wie Heimkommen anfühlt
- colindamian
- 4. Dez.
- 4 Min. Lesezeit
Auf der Matte lerne ich:
länger aus – als ein.
So beginnt Loslassen. So beginnt Ankommen.
Intuition flüstert. Der Körper weiß den Weg.
Wie eine Schildkröte, die nie eilt und doch immer ankommt,
erinnert mich mein Atem daran:
Es gibt nichts zu verpassen, wenn ich wirklich da bin.
Es ist kalt geworden. Die Luft morgens ist klarer, die Schritte werden leiser, Schals werden höher gezogen.
Die kalte Jahreszeit lädt uns ein, langsamer zu werden – und trotzdem versuchen wir oft, genauso viel zu schaffen wie im Sommer, nur eben mit dicker Jacke.
Draußen zeigt uns die Natur gerade etwas anderes:
Bäume lassen los. Blätter fallen. Felder liegen brach. Nichts wirkt hektisch, nichts wirkt „zu wenig“. Es ist einfach eine andere Zeitqualität: die Zeit des Rückzugs, des Stillwerdens, des Sammelns.
Und irgendwo dazwischen stehen wir – mit To-Do-Liste, Terminen und einem Kopf voller „Ich müsste noch…“.
Genau hier beginnt die Matte.
Die Matte als kleiner Winter im Alltag
Wenn ich auf meine Matte trete, ist das wie eine kleine Jahreszeitenverschiebung:
Draußen mag es laut sein, aber hier wird es stiller. Mein Körper weiß das schon, bevor mein Kopf nachkommt.
Auf der Matte lerne ich, länger auszuatmen als ein.
Nicht, weil es „richtig“ ist, sondern weil sich etwas in mir erinnert:
Ich darf loslassen.
Ich muss nicht die ganze Zeit anhalten, festhalten, durchhalten.
Mit jeder längeren Ausatmung lasse ich ein bisschen vom Tag aus mir herausfließen:
den einen Satz, der mich geärgert hat,
die Mail, auf die ich noch keine Antwort habe,
den Anspruch, heute alles „perfekt“ zu machen.
Die Einatmung holt mich ins Leben, die Ausatmung bringt mich bei mir an.
So beginnt Loslassen. So beginnt Ankommen.
Was uns die Natur jetzt wirklich zeigt
Im Herbst und Winter denken wir oft: „Alles wird grau, alles zieht sich zurück.“
Doch eigentlich passiert etwas sehr Weises:
Bäume verschwenden keine Energie auf Blätter, die sie jetzt nicht brauchen.
Pflanzen ziehen ihre Kraft in die Wurzeln zurück.
Die Natur erlaubt sich eine Pause, damit Neues entstehen kann.
Wir könnten uns jeden Tag draußen daran erinnern lassen:
Es ist okay, Kraft zu sparen.
Es ist okay, langsamer zu werden.
Es ist okay, etwas gehen zu lassen, um später wieder neu zu beginnen.
Auf der Matte sieht das dann so aus:
eine Haltung nicht „noch ein bisschen weiter“ drücken,
sondern früher rausgehen, weil der Körper heute leise „genug“ sagt.
nicht die anspruchsvollste Variante wählen,
sondern die, in der du wirklich atmen kannst.
Es ist kein Rückschritt. Es ist ein Rhythmus.
Die Schildkröte in uns
Ich mag das Bild der Schildkröte:
Sie trägt ihr Zuhause immer mit sich.
Sie eilt nicht – und kommt doch an.
So eine innere Schildkröte haben wir auch.
Sie lebt in unserem Atem, in den Pausen, in den Momenten, in denen wir kurz die Schultern sinken lassen.
Wenn wir länger ausatmen als ein, passiert genau das:
Wir ziehen unser Zuhause ein Stück weit nach innen.
Nicht der Kalender entscheidet dann, wie voll wir sind, sondern unser Körper.
Vielleicht fragst du dich: Wie fühlt sich „mein Zuhause in mir“ an?
Manchmal ist es nur ein kleiner Augenblick:
wenn du die Hand auf deinen Bauch legst und spürst, wie er sich hebt und senkt,
wenn du in der Haltung kurz die Augen schließt und merkst: „Hier muss ich nichts beweisen“,
wenn du in der Endentspannung spürst, wie dein Körper schwer wird und die Matte dich trägt.
Das sind die Momente, in denen dein innerer sichere Ort kurz aufleuchtet. Wie eine kleine Laterne im Dunkeln.
Bewusst langsamer werden – auf der Matte und im Tag
Gerade jetzt, in der dunkleren Jahreszeit, dürfen wir uns öfter fragen:
Muss das heute noch sein?
Muss ich wirklich so schnell?
Oder darf ich einen Gang runter schalten?
Auf der Matte üben wir das ganz konkret:
Eine Haltung länger halten, statt die nächste Variation zu suchen.
Eine Pause zwischen zwei Übungen einbauen und einfach nur atmen.
Den Fokus nicht auf „richtig machen“, sondern auf „wirklich spüren“ legen.
Was auf der Matte beginnt, kann in deinen Alltag rüberfließen:
Beim Zähneputzen bewusst durch die Nase ein- und länger ausatmen.
In der U-Bahn die Schultern senken und innerlich sagen: „Ich bin hier.“
Vor dem Schlafen einmal die Hand auf den Bauch legen und spüren: „Ich darf ruhen.“
Das sind kleine, stille Revolutionen. Kein großer Vorsatz, keine perfekte Routine – sondern ein liebevolles langsamer werden.
Dich selbst immer wieder daran erinnern
Wir vergessen das alles natürlich wieder.
Der Alltag wird laut, der Kopf wird voll, der Kalender füllt sich.
Deshalb brauchen wir Erinnerungen:
den Blick in den winterlichen Himmel,
das Rascheln von Blättern auf dem Boden,
die Kälte auf der Haut, wenn wir aus der Tür treten,
und vielleicht deine Matte, die zu Hause auf dich wartet.
All das kann dir zuflüstern:
Du darfst zur Ruhe kommen.
Du musst nicht schneller sein als dein Atem.
Du darfst loslassen, um neu zu beginnen.
Vielleicht ist das dein kleiner Satz für die nächsten Wochen:
Ich darf nichts müssen.
Ich darf einfach sein.
Und jedes Mal, wenn du auf deine Matte trittst, darfst du dich daran erinnern:
Du bist ein bisschen wie diese Schildkröte.
Du trägst dein Zuhause in dir –
du musst nur hinspüren, um wieder dort anzukommen.





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